Arbeitsgemeinschaft Elternbeiräte an Gymnasien im Regierungsbezirk Stuttgart

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Schulpolitische Grundsatzdebatte ist überfällig - G9-Petition sammelt wieder Unterschriften

Kaum ein Elternteil hat keine Meinung dazu - und das ist möglicherweise auch der Grund, dass in die kontroverse Diskussion um das optimale Schulsystem für die Gymnasien in Baden-Württemberg nicht voran kommt. Ein acht- oder neunjähriges Gymnasium zur Regelschule zu machen, wäre ja noch relativ einfach, reduzierte man diese Frage auf den rein zeitlichen Aspekt. Dem ist aber nicht so. Also zerreiben sich Parteien, Lehrerverbände, Kultuspolitiker - vor allem aber Eltern an der Frage, welches Schulsystem die Kinder am besten auf ihren künftigen Beruf vorbereitet.

Der Philologenverband Baden-Württemberg hat in einer Presserklärung auf den Unterrichtsausfall durch den Corona Lockdown mit der Forderung reagiert, ab dem nächsten Schuljahr alle Gymnasien  ab den Klassen fünf bis zehn generell auf G9 umzustellen und wahlweise auch G8 für die Schüler zuzulassen. Der Philologenverband reagierte damit auf den Beschluss des Kultusministeriums, in diesem Jahr alle Schüler zu versetzen, um Benachteiligungen durch unterschiedliche Voraussetzungen für den Unterricht zuhause zu vermeiden. Niemand dürfe wegen Corona und den Folgen für die Bildung geschädigt werden. Dem Philologenverband geht dieser Beschluss allerdings nicht weit genug. Die versäumte Lernzeit und das unterschiedliche Niveau, mit dem die Schüler wieder in den Präsenzunterricht zurückkämen, könnten damit nicht ausgeglichen werden. 

Ralf Scholl, der Landesvorsitzende des PhV wörtlich: "Das wird erst im kommenden Schuljahr wirklich spürbar werden, wenn auf den Inhalten aus der Schulschließungszeit aufgebaut werden muss bzw. diese Inhalte zuerst zusätzlich vermittelt werden müssen. — An den Gymnasien im ohnehin mit Lernzielen überfüllten G8 gibt es ohnehin nicht genug Zeit zum Wiederholen und Üben." Deshalb müsse durch ein zusätzliches Jahr und durch die generelle Umstellung des Schulsystems auf G9 allen Schulkindern ein zusätzliches Jahr Zeit verschafft werden, um die Corona-Defizite ausgleichen zu können. (Den Wortlaut der PhV-Forderung finden Sie hier!)

Die Arbeitsgemeinschaft der Eltermvertreter im Regierungsbezirk Tübingen (ARGE Tübingen)  teil im Prinzip sowohl die Argumentation des Philologenverbandes als auch der ARGE Stuttgart. Man müsse den Folgen der Corona-Zeit angemessen entgegentreten. Der ARGE-Vorsitzende Stephan Ertle schreibt dazu in einem offenen Brief an die Elternbeiräte:

"Bei dem jetzigen Homeschooling vieler unserer Kinder findet kein gemeinsames Lernen statt und allzu oft fehlen Telefon- oder Videokonferenzen. Ohne direkte Interaktionen zwischen Lehrenden und Schülern beschränkt sich der Unterricht aber u.a. auf das Ausgeben von Arbeitsmaterialien und die Besprechung von Lösungen. Homeschooling funktioniert sehr oft nicht hinreichend gut, mit deutlich erkennbaren Nachteilen für viele Schüler/innen.

Viele aktuell feststellbaren Defizite werden wir mit in das Schuljahr 2020/21 mitnehmen und es ist jetzt der Zeitpunkt, die notwendige Verlängerung der Schulzeit an den Gymnasien zu erörtern und gemeinsam zu regeln. Die in fast allen anderen Bundesländern bereits vollzogene Wiedereinführung des neunjährigen gymnasialen Bildungsgangs erhält vor dem Hintergrund der aktuellen Krise einen neuen Stellenwert und es ist jetzt der Zeitpunkt, die Schulzeit an den Gymnasien zu verlängern.

Unter Berücksichtigung der aktuellen Rahmenbedingungen erwartet die ARGE Tübingen eine ergebnisoffene und transparente Diskussion über die Einführung eines neuen G9 mit einer auf die einzelnen Schüler/innen zugeschnittenen Flexibilisierung."

In Baden-Württemberg gibt es nur in 43 "Versuchsschulen" die Möglichkeit, den G9-Zug zu wählen. Diese Schulen allerdings sind heftig frequentiert. In einer Online-Petition wurden bis jetzt mehr als 41.000 Unterschriften für das neunjährige Abitur als Regelsystem gesammelt. Eine erstaunlich hohe Zahl, legt man die Logistik der Online-Petition zugrunde: Die zwei Initiatorinnen haben diese Zustimmung innerhalb kurzer Zeit mit wenig oder gar keiner Medienerfahrung oder -zugang geschafft. (Weitere Informationen zur Petition G9-jetzt-BW)

Die eigentlich schon abgeschlossene Petition wurde nun vor dem Hintergrund der Entwicklungen im Schulunterricht zu Corona-Zeiten für zunächst vier Wochen wiedereröffnet.In einem offenen Brief an das Kultusmninisterium argumentieren die Initiatorinnen der Petition, dass Corona und die Folgen den Wechsel zu G9 dringender denn je machten. Massive Stoffversäumnisse, unterschiedliche Lernmethoden, pädagogische Anbindung und daraus folgend unterschiedliche und kaum messbare Lernerfolge könnten nicht ohne Reaktion im Schulsystem bleiben. Ungleiche Lernvoraussetzungen zuhause führten zu Bildungsungerechtigkeiten, die auf keinen Fall im sowieso schon gehetzten G8-Schulsystem aufgefangen werden könnten. 

In dem Brief heißt es weiter: "Die Krise belastet die Schüler: Dieser Aspekt kommt in der allgemeinen Diskussion leider zu kurz, aber Lernen ist kein simpler mechanischer Vorgang wie das Betanken eines Autos. Um überhaupt lernbereit und lernfähig zu sein, bedarf es gewisser psychischer Voraussetzungen. Die momentan erlebte Ausnahmesituation belastet auch – oder gerade! – die Kinder, die unsere Sorgen um Angehörige oder die berufliche Existenz mit ihren feinen Antennen sehr sensitiv aufnehmen. Gar nicht erst zu reden davon, dass manche SchülerInnen und ihre Familien unmittelbar von einer Coronaerkrankung betroffen sind." Corinna Fellner und Anja Plesch-Krubner ziehen als Konsequenz aus den Mängeln in der aktuellen Schulsituation die Forderung, ein sofortiges G9 ab dem nächsten Schuljahr für alle Gymnasiaten der jetzigen Klassen 5-11" einzuführen.

Die Kultusministerin hat in Reaktion auf die Forderung des Philologenverbandes inzwischen bereits die Aufnahme einer schulpolitischen Grundsatzdiskussion mit dem Ziel G9 einzuführenzum jetzigen Zeitpunkt ausgeschlossen. Allerdings werde man aufmerksam die Ergebnisse der Länder verfolgen, die in jüngerer Vergangenheit zum neunjährigen gymnasialen System zurückgekehrt sind.

Leider ist die Zeit zwischen März 2019 und dem Beginn der Corona-Krise in Baden-Württemberg in keiner Weise für eine schulpolitische Diskussion genutzt worden. Obwohl: 2019 lehnten in einer Studie in den alten Bundesländern 80 Prozent der befragten Eltern G8 als verbindliche Gymnasiums-Form ab. In allen Bundesländern außer Rheinland-Pfalz wurde G 8 zu Beginn des Jahrtausends eingeführt. Längst haben sich die damaligen Gründe für die Einführung erledigt oder als falsch erwiesen.Damals hatten im europäischen Vergleich deutsche Abiturienten ein zu hohes Alter, G8 könne, so hieß es, durch Konzentration des Unterrichtsstoffs auf das Wesentliche und der notwendigen Entrümpelung des Lehrplans sehr viel besser auf Studium und Beruf vorbereiten. Als Ziel galt, den Studienbeginn mit 18 Jahren zu erreichen. Ohne große Erprobung oder wissentschaftliche Begleituntersuchungen ging das "Experiment" G8 in Serie.

Heute allerdings haben sich viele der damaligen Begründungen für G8 in Luft aufgelöst: Die Wehrpflicht wurde 2011 aufgehoben, die Kinder wurden immer früher eingeschult, was zur Folge hat, dass heute Abitur mit 17 Jahren die Regel geworden ist. Viel zu früh und dann auch noch mit Lernstoffen zum ungünstigen Entwicklungszeitpunkt der Schülerinnen und Schüler überfrachtet, kritisieren - unterstützt von den Kultus-Wissenschaftlern - die Eltern, die ihre Kinder gestresst, überfordert und dem "Turbo-Abitur" schutzlos ausgeliefert sehen. Zeit für Vertiefung, Besinnung oder gar für das Finden des späteren Berufsweges sei kaum noch da, viele Abiturienten bräuchten nach dem G8-Stress erst mal eine einjährige Auszeit, um ihren weiteren Weg zu überdenken.

Als Konsequenz der Unzufriedenheit der Eltern und der Erkenntnisse der Wissenschaft führten fast alle alten Bundesländer in den letzten Jahren wieder den neunjährigen Gang zum Abitur ein. Nur Baden-Württembergs Kultuspolitik schloss sich dieser Erkenntnis nicht an und beharrt weiterhin auf G8 als Regelschulform für Gymnasien. Das Optimimum  für Schülerinnen und Schüler zu finden, ist in der aufgeheizten politischen Diskussion kaum noch ein Argument. Stattdessen haben viele Eltern das Hin und Her der schulpolitischen Diskussion satt und wollen - ebenso wie viele Schulen - erst einmal G8 in aller Ruhe auf dem Prüfstand sehen. Wie die Bestandsaufnahme der Unterrichtssituation im Land zeigt, praktiziert Baden-Württemberg ja faktisch weder G8 noch G9, sondern aufgrund der Lehrerversorgung und dem damit verbundenen  Unterrichtsausfall G 7.

Nun kommt die durch Corona ausgefallene Unterrichtszeit dazu. Als Konsequenz daraus werden im Schuljahr 2019/2020 wohl nur zwei Drittel der gesamten Unterrichtszeit stattgefunden haben. Für die Jahrgangsstufe eins bedeutet das, den Unterricht von eineinhalb Schuljahren der Oberstufe in nicht einmal einem Jahr bis zum schriftlichen Abitur im April nächsten Jahres aufholen zu müssen. Da paßt nicht für diesen Abschlussjahrgang und eingeschränkt auch nicht für alle derzeit unterrichteten Jahrgänge, was als Ziel des Gymnasiums gilt: "Das allgemeinbildende Gymnasium soll und muss stets verlässlich auf ein Universitätsstudium vorbereiten und daher brauchen wir gerade in den auch weiterhin zu erwartenden globalen Krisen mündige, freie, breitgebildete und innovative junge Menschen."(zitiert aus dem Brief der Initiative G9-jetzt-BW an die Kultusministerin.)         

Die eigentlich dringend erforderliche Grundsatzdiskussion über G9 oder G8 wird vor allem auch dadurch gebremst, dass die praktizierten G9-Modelle auch an den "Versuchsschulen " im Land sehr unterschiedlich aussehen. Die Forderungen nach G9 haben einen sehr unterschiedlichen Inhalt und reichen von "zurück zum alten G9" über ein G9/G8 im eigenen Ermessensspielraum von Eltern und Schülern bis hin zum generellen G9 mit der Wahlmöglichkeit für Eltern/Schüler für ein G8 an bestimmten Schnittpunkten der Schullaufbahn.

Ohne eine grundsätzliche und - wie die ARGE Tübingen fordert - " ergebnisoffene und transparente Diskussion über die Einführung eines neuen G9 mit einer auf die einzelnen Schüler*innen zugeschnittenen Flexibilisierung" wird sich allerdings an den Mängeln im Baden-Württembergischen Schulsystems nichts ändern. Schon gar nicht unter den Bedingungen der Corona-Pandemie.