Arbeitsgemeinschaft Elternbeiräte an Gymnasien im Regierungsbezirk Stuttgart

AKTUELLES

Denkbar schlechte Voraussetzungen für die Rückkehr zur "Normalität"

Liebe Mitglieder der ARGE Stuttgart,

seit Mitte März dauert jetzt also die schulische Ausnahmesituation an. Nach den Pfingstferien sollen alle Schüler wieder in den Genuss eines Präsenzunterrichts kommen. Es wird aber auch nach den Pfingstferien erst einmal nicht „normal“ zugehen an den Schulen. Und auch die Bedingungen für Versammlungen werden noch nicht der Vor-Corona-Zeit entsprechen. Allerdings ist jetzt wohl die Zeit der „Lockerungen“ gekommen, der schrittweisen Rückkehr zu normalen Verhältnissen. Darin eingeschlossen ist die Absicht, im Land ab Anfang Juni wieder Versammlungen von bis zu einhundert Personen zuzulassen. Darunter würde unsere nächste Mitgliederversammlung am 27 Juni fallen. Wenn sich also die Lage, wie zu erwarten ist, bis dahin entsprechend verbessert, bleiben wir bei diesem Termin und bitten Sie alle, diesen vorzumerken. 

Nicht für alle durchgehend, aber rollierend, flexibel und den jeweiligen Schulverhältnissen entsprechend soll jetzt also nach den Pfingstferien der Unterricht wieder aufgenommen werden. Es wird kein Voll-Unterricht werden. Dazu sind sowohl die hygienischen Vorschriften als auch die Lehrerversorgung an den Schulen viel zu einschneidend für den Präsenzunterricht. Als positiv kann man werten, dass die eigentlich vorgesehenen starren Regeln für die Schulen aufgrund der sehr sachlich begründeten Einwendungen u.a. vom Landeselternbeirat inzwischen geändert wurden. Um die unsäglichen Diskussionen über abgetauchte und/oder gegenüber anderen Berufsgruppen überprivilegierten Lehrern zu beenden, hat das Kultusministerium zumindest im Ansatz reagiert und verlangt künftig ein Attest, bevor ein(e) Lehrer/Lehrerin wegen Risikofaktoren zuhause bleiben kann. Die Forderung, gleiche Bedingungen für alle Arbeitsbereiche zu schaffen, hat nichts mit fehlendem Vertrauen zu tun sondern mit gesellschaftlicher Gerechtigkeit.

Die Verantwortung für die Umsetzung des vom Kultusministerium gegebenen Rahmens für Präsenzunterricht liegt bei den einzelnen Schulen. Für die Eltern sind diese rollierenden Systeme womöglich noch weniger hilfreich, als der innerhalb der Familie durchgehend im Wechsel untereinander organisierte Distanzunterricht. Corona wird uns mindestens noch bis zu den Sommerferien erhalten bleiben – und vermutlich auch noch weit über den Schuljahresbeginn im September hinaus. Das wird schon jetzt absehbar gravierende Folgen für alle Schüler*innen haben, vor allem aber für den Abschluss-Jahrgang im nächsten Jahr. Kritisiert wird derzeit das Ministerium für seine im 14-Tage-Rhythmus vorgenommenen Anpassungsschritte. Dahinter ist eine langfristige Strategie selten erkennbar. Die aber braucht es jetzt für die Frage nach den Aufhol-Konzepten für die mit höchst unterschiedlichem Lernniveau aus dem Lockdown zurückgekommenen Schüler*innen. Andererseits muss es Vorgaben des Ministeriums für den Lernstoff speziell der Jahrgangsstufe 1 bis zum Abitur geben.

Bei allem Verständnis auf Eltern- und Lehrer*innen-Seite, sich den künftigen wissenschaftlichen Erkenntnissen des Pandemie-Verlaufes anzupassen, ist heute schon im Rückblick auf dieses Schuljahr und auch ohne Kenntnis des weiteren Verlaufs sicher, dass das Schuljahr 2019/20 nur auf etwa 60 Prozent Unterrichtszeit kommen wird. Ausgehend davon, dass es auch für das Schuljahr 2020/21 keine volle Unterrichtszeit geben wird – lediglich die Höhe der Reduzierung ist noch ungewiss - kann nicht ernsthaft davon ausgegangen werden, dass in den beiden Schuljahren der gesamte Lehrplan durchgenommen werden kann. Vernünftigerweise müssten also die Schulen jetzt schon Lehrstoff-Vorgaben haben oder in nächster Zeit bekommen, auf welche Lerninhalte verzichtet werden muss. Das kann angesichts eines Zentralabiturs nicht im Ermessensspielraum von Lehrer*innen und Schulen bleiben.

Die Schulgemeinschaften in Baden-Württemberg waren genauso schlecht auf Corona vorbereitet wie das Kultusministerium. Die Unterrichtsversorgung mit Lehrer*innen, der Stand der Digitalisierung an den Schulen des Landes und die Pro-Kopf-Investition in die Bildung in Baden-Württemberg waren schon vor Corona katastrophal. Was an diesen miserablen Verhältnissen sollte sich durch Corona geändert haben?

Jetzt, in Zeiten der Lockerung, bringen alle gesellschaftlichen Gruppen, alle Wirtschaftsverbände und Lobbyisten zum großen Teil zu Recht ihre Forderungen für die Zeit nach Corona an die Öffentlichkeit. Die Forderungen

-      nach angemessener Finanzierung der Bildung unserer Kinder,

-      nach schnell wirkenden Maßnahmen zum Abbau des seit Jahren beklagten Unterrichtsausfalls und

-      nach Einsatz der Milliarden-schweren Mittel aus dem Digitalpakt an den Schulen

drohen erneut – wie schon vor Corona – hinter den von Politikern als populärer und wirkungsvoller in der Wählerbeeinflussung eingeschätzten Maßnahmen zurückzubleiben.

Für Eltern musste es selbstverständlich sein, für ihre Kinder einen Teil der schulischen Aufgaben zuhause zu übernehmen. Für Lehrer*innen musste es selbstverständlich sein, sich den Corona-Bedingungen für den Unterricht zuhause anzupassen. Sie mussten sich Vieles im digitalen Unterrichtsbereich zu eigen machen, auf dessen Einführung sie ohne Corona ganz sicher noch einige Zeit hätten warten müssen. Soweit man das überschauen kann, haben es beide „Parteien“ geschafft, ihre Aufgaben zu erledigen, von Ausnahmen abgesehen.

Leider kann man eine ähnlich positive Würdigung in Richtung Kultusministerium derzeit nur sehr eingeschränkt abgeben:

Noch so viele handschriftliche Sympathiebekundungen und Danksagungen in ministerialen Rundbriefen können nicht klare Perspektiven und Vorgaben ersetzen.

-      Es gab Versprechungen über „Sommerschulen“ und Förderangebote in den Sommerferien. Die Sommerferien und damit mehr als sechs Wochen unterrichtsfreie Zeit rücken näher und niemand von den Eltern kann diese Zeit in irgendeiner Weise planen, wenn Förderangebote seitens des Ministeriums tatsächlich angeboten werden sollten. Auch wenn dies aus heutiger Sicht nicht der Fall sein sollte, müsste dies jetzt bekannt gegeben werden.

-      Es gab das Moodle-Chaos zu Beginn des Distanzunterrichts und die Erkenntnis, dass im digitalen Bereich die Schulen für ihre Netze, die Zahl der verfügbaren Endgeräte und die Software-Voraussetzungen denkbar schlecht vorbereitet waren und sind. An welcher Stelle der Sympathiebekundungen und Danksagungen wurde den Eltern – und den Schulen – eine klare Perspektive für die Zeit nach Corona aufgezeigt, um das Chaos unterschiedlicher digitaler und datenrechtlich einwandfreier Angebote in der Corona-Zeit zu ordnen und die Schulen digital zukunftstauglich zu machen?

-      Wann wurden in diesem Zusammenhang die Stadt-Land-Unterschiede in den Netzen und in der digitalen Versorgung angesprochen? Wann wurde angekündigt, dass man diese Unterschiede überhaupt erst einmal festhalten – und dann zeitnah ändern wolle?

 -      Wo konnte man auch nur eine Absichtsbekundung des Ministeriums – oder gar konkrete Pläne - finden, die Lehrer*innen „fit“ für die zunehmende Digitalisierung zu machen? Ohne Fortbildung geht es nun mal nicht.  

-      Zu welchem Zeitpunkt konnte man auf Elternseite den Eindruck gewinnen, dass der Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts dieselbe Aufmerksamkeit eingeräumt wurde, wie der Öffnung von Biergärten und Freizeiteinrichtungen?

-      Wo hat man Alternativen für die Umsetzung des Präsenzunterrichts unter Berücksichtigung von zusätzlichen Raumangeboten oder der Beschäftigung zusätzlicher Lehrkräfte diskutiert?

Und das Wichtigste:

-      An welcher Stelle konnte man erkennen, dass sich das Kultusministerium der grundsätzlichen Diskussion um das künftige Schulsystem stellt?

Man muss seitens des Ministeriums nicht sofort lautstark G9 oder G8 an den Gymnasien propagieren. Aber man muss sich mit der Forderung zahlreicher Wissenschaftler und Elternorganisationen unter den aktuellen Gegebenheiten der Corona-Krise auseinandersetzen und nicht, wie geschehen, diese Diskussion pauschal ablehnen. Abgesehen von der Forderung der ARGE Stuttgart nach einer grundsätzlichen Diskussion, wie sie seit einem Jahr auf dem Tisch liegt, gehört es sich für eine verantwortungsvolle Politik, darüber nachzudenken zu diesem Zeitpunkt, an dem die Einführung von G9 im nächsten Schuljahr sich als eine sehr realistische Lösung anbieten würde. Vor allem vor der nicht beantworteten Frage, wie man mit den unterschiedlichen Bedingungen des Distanzunterrichts und dem verloren gegangenen gemeinsamen Niveau der Lerngruppen umgehen will.      

Diese Forderungen müssen die Eltern an das Kultusministerium stellen können. Und das Kultusministerium darf es nicht dabei belassen, handschriftlich Dank und Anerkennung an Eltern zu vergeben, nachdem davor in Druckschrift Konzepte und Rahmenbedingungen vorgegeben werden, denen überdeutlich der Praxisbezug fehlt. Den Praxisbezug, den man in der Kommunikation mit Schulen und Elternvertretungen hätte bekommen können. Dieser fand offensichtlich häufig vor der Verkündigung von Verordnungen nicht statt. Anders ist die Vielzahl wieder geänderter Verfügungen aufgrund von Einsprüchen von Schulen und Elternvertretungen nicht zu erklären.

Der Wert eines Systems, einer Organisation oder auch nur eines Unternehmens zeigt sich daran, wie diese Institution im Fall einer Krise funktioniert. So gesehen, hat unser Schulsystem keinen besonders hohen Wert. Leider!

Für die Eltern kann nur weiterhin gültig und notwendig sein, das Gespräch mit den Schulleitungen zu suchen und möglichst konkret Anregungen zu geben!

Pädagogische Konzepte zu entwerfen und die Umsetzung von Wunschvorstellungen für eine Corona-freie Unterrichtszeit zu fordern, gehörte schon früher nicht, jetzt aber umso weniger zur Aufgabe der Elternvertreter. Mitdenken, Erfahrungen und Ideen zur Optimierung weitergeben, schon. Den Rahmen setzt das Ministerium, für die Umsetzung sind die Schulen zuständig. Am Rahmen können die Eltern ebenso wie die Schulen nur wenig ändern. Bei der Umsetzung allerdings gibt es viele Möglichkeiten der Optimierung. Und da sollten Eltern anregen, wo immer es geht.     

Nach wie vor und bis auf Weiteres ist es wichtig, den auch künftig bestehenden Online- und Distanzunterricht zu verbessern. Allen Rückmeldungen unserer ARGE-Mitglieder zufolge war es und ist es nie vergeblich, möglichst konkret Fehler und unbefriedigende Umstände in einzelnen Klassen anzusprechen.

Das Ziel einer Rückkehr zu „normalen“ Unterrichtsbedingungen wird unter denkbar schlechten Voraussetzungen angegangen. Das muss allen Beteiligten an der Schulgemeinschaft auch in den nächsten Monaten bewusst bleiben.

Möglichst noch unter der frischen Erinnerung der Corona-Zeit sollte jede Schule aufarbeiten,

-      wo es technisch geklappt hat und klappt,

-      wo Lücken im E-Learning waren und sind,

-      wo Moodle funktioniert(e) und warum, schließlich

-      wie man künftiges Online-Lernen an der Schule vorbereiten und optimieren kann.

Bleiben Sie gesund und alles Gute in der nächsten Zeit!

Für den Vorstand der ARGE Stuttgart

Michael Mattig-Gerlach, Ines Müller-Vogt

für den Vorstand der ARGE Stuttgart