Arbeitsgemeinschaft Elternbeiräte an Gymnasien im Regierungsbezirk Stuttgart

Baden-Württemberg praktiziert an den Gymnasien eigentlich G7

Die Landespressekonferenz im Stuttgarter Landtag war gut besucht, das Thema hatte es auch in sich: Die Vertreter des ARGE-Vorstands, Michael Mattig-Gerlach und Georg Appel sowie die Vorsitzende des Gesamtelternbeirates Stuttgart, Kathrin Grix, legten den Journalisten brisante Zahlen vor. Die Erhebung in den Gymnasien hatte ergeben, dass in den ersten neun Schulwochen des Jahres 13,49 Prozent des Unterrichts nicht wie geplant stattfanden. 7,81 Prozent davon fielen komplett aus, in 5,68 Prozent gab es wenigstens einen Vertretungsunterricht. 

Über den Wert dieses Vertretungsunterrichts, so Mattig-Gerlach auf der Landespressekonferenz, könne man durchaus geteilter Meinung sein. Allerdings sei es völlig unverständlich, dass die Schulbehörden diesen Vertretungsunterricht  vom Gesamtentfall des geplanten Unterrichts abziehe. So, als wäre dieser Vertretungsunterricht der Unterricht, in dem die Schülerinnen und Schüler, den geplanten Lernstoff vermittelt bekämen. Niemand, der selbst Kinder in den Gymnasien habe und die Schulpraxis kenne, könne sich dieser Interpretation anschließen. Die unterrichtenden Lehrer auch nicht, denn die würden durch diese Vertretungen zusätzlich und kurzfristig belastet. Die GEB-Vorsitzende, Kathrin Grix brach für die Lehrer eine Lanze und verwies darauf, wer die Leidtragenden des Unterrichtsausfalls seien. Neben den Schülerinnen und Schülern eben auch die Lehrerinnen und Lehrer, die ständig einspringen müssten, um wenigsten das Schlimmste zu verhindern.

Es ist das erste Mal, dass die Unterrichtssituation an den Gymnasien über einen längeren Zeitraum erfasst wird. Die Erhebung ist Folge der Darstellung von Politikern und Lehrerverbandsmitgliedern, wonach es keine belastbaren Zahlen für den tatsächlich stattfindenden Unterricht an den Gymnasien gäbe. In der Tat wurde vom Kultusministerium bisher stichprobenartig eine Woche im November der Unterricht an allen Schulen im Land festgehalten und dann auf das ganze Jahr und die Unterrichtsversorgung an sich die Schlussfolgerung gezogen. Dies hatte für die Gymnasien zur Folge, dass dort ein Unterrichtsausfall im ganzen Land von lediglich 5,4 Prozent festgehalten wurde. Die ARGE zog diese Zahlen in Zweifel und stützte sich dabei auf die Feststellungen vieler Eltern, die von der häufig gehörten Aussage der Behörden, es falle kein geplanter Unterricht aus, nicht überzeugt waren. Anders wäre kaum zu erklären, warum die Kinder so häufig zuhause seien und ebenso oft Vertretungsunterricht stattfinde. 

Georg Appel, der stellvertretende Vorsitzende der ARGE, skizzierte auf der Landespressekonferenz die Genesis der Erhebung ausgehend von den Aussagen der Politiker im November auf der ARGE-Versammlung in Ludwigsburg. Keine belastbaren Zahlen gäbe es, so die Politiker von CDU, SPD und FDP.. Die EDV-System aller Schulen zu vereinheitlichen, um Daten des Unterrichtsausfalls zu sammeln sei eine "Herkulesaufgabe", die Jahre dauern könnte. Die Elternvertreter hätten sich dieser "Herkulesaufgabe" angenommen, so Georg Appel, und in drei Monaten die Ergebnisse vorgelegt, die nun offensichtlich auch den Erkenntnissen des Regierungspräsidiums entsprechen. 

Bei einem Gespräch des ARGE-Vorstands mit Vertretern des Regierungspräsidiums wurde ein Entfall im Regierungsbezirk laut der Novemberstichprobe von sogar 9,5 Prozent an allen Schulen genannt. Allerdings wurde dieser Prozentsatz einfach um die Prozente des Vertretungsunterrichts- 4,1 Prozent - vermindert, wodurch eben nur die immer wieder verbreitete Zahl von 5,4 Prozent Entfall zustande kam. Die ARGE Stuttgart und auch der GEB können diese "Rechnung" nicht nachvollziehen und machen Ihrerseits eine ganz andere Rechnung auf, wie sie aus den Ergebnissen der Erhebung abgeleitet werden müsse: In jedem Schuljahr entfielen bis zu dreizehn Prozent des Unterrichts. Dadurch würden die Schuljahreswochenstunden für jeden Schüler statt 1.320 Schulstunden - bei durchschnittlich 33 Wochenstunden - nur 1.149 Stunden betragen, 171 Stunden weniger als geplant.

Mattig-Gerlach ging noch einen Schritt weiter und rechnete diesen Unterrichtsausfall für jeden Schüler in der G8-Gymnasiums-Laufbahn hoch: Demnach fällt statistisch im Laufe der acht Jahre am Gymnasium ein komplettes Schuljahr durch Unterrichtsaufall weg.  Faktisch rede man bei Schulsystems-Diskussionen nicht über G 8 oder G9 sondern über eine Schulwirklichkeit von G7. Georg Appel sprach auf der Landespressekonferenz von der schweren Hypothek, die unsere Gesellschaft durch diesen Ausfall an Schulbildung mit in die Zukunft nehme: Unsere Kinder, so die gesicherte und wenig neue Erkenntnis, müssten in der Zukunft übernehmen. Und das in der ebenso gesicherten Erkenntnis, dass sie zu wenig und nicht genügend in der Schule darauf vorbereitet würden. Wer sieben statt acht Jahre Gymnasium mit "Turbo"-Abitur und im Bildungs-Laufschritt durchmache, sei auf keinen Fall optimal darauf vorbereitet, diese gesellschaftliche Aufgabe zu übernehmen. 

Natürlich wollten die Vertreter der Presse im Landtag auch wissen, wie sich die Elternvertreter eine Lösung der Probleme vorstellen könnten. Kathrin Grix (GEB Stuttgart) griff die Argumentation des GEB - und auch der Lehrerverbände - erneut auf und forderte eine 120-prozentige Unterrichtsversorgung, um den Entfall in den Griff zu bekommen. Die ARGE-Vertreter sahen durch die reine Zusatz-Versorgung mit Lehrern das Problem vor allem der MINT-Fächer nicht gelöst. Hier seien unbürokratische und phantasievolle Lösungen gefragt. Lehraufträge für Quereinsteiger, die berufliche Kompetenz der Elternschaft, Abschaffung der zweimonatigen Kündigung mit anschließender Neueinstellung für Lehramtskandidaten nach dem zweiten Staatsexamen seien sinnvolle Schritte für eine schnelle Änderung der Versorgungs-Situation.  Wenn man einerseits Gymnasiallehrer im sechswöchigen Schnellkurs zu Grundschullehrern ausbilden wolle, dann falle es extrem schwer, ein Argument zu finden, warum Gymnasiallehrer durch entsprechende Schulung nicht in der Lage sein sollten, wenigstens für die Klassen fünf und sechs naturwissenschaftlichen und mathematischen Unterriicht zu erteilen. 

Mehr als ein Jahr entfallender Unterricht an den Gymnasien! Dies, so der ARGE-Vorsitzende Mattig-Gerlach, könne nicht beantwortet werden durch Maßnahmen an den Hochschulen und Universitäten, die frühestens in zehn Jahren zu einer Verbesserung führten. Die Not an den Gymnasien sei aktuell, sie sei brennend - und sie müsse jetzt sofort angegangen werden. Die Eltern der Schulkinder von heute könnten sich nicht mit Bildungsplänen zufriedengeben, die möglicherweise und Wahl-Turbulenzen im Land nicht berücksichtigt, - frühestens für die Kinder ihrer Kinder wirksam würden. Die ARGE Stuttgart plane, die Erkenntnisse der Erhebung  mit allen Arbeitsgemeinschaften der Gymnasien im Land zu diskutieren und auch mit den Lehrerverbänden gemeinsame Aktionen anzugehen. Diese müssten alle dasselbe Ziel haben: Die Unterrichtsversorgung an den Schulen des Landes auf den Stand zu bringen, den unsere Kinder verdient haben - und den sich ein reiches Land wie Baden-Württemberg auch leisten muss!